Nachteile ausgleichen - so geht's!

Kinder, Hürden & der Nachteilsausgleich

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Es ist doch immer wieder spannend, Familien in Hamburg auf ihrem Weg zur Gewährung bzw. Umsetzung eines dringend benötigten Nachteilsausgleichs zu begleiten! Während die Schulbehörde einen klaren Rahmen setzt, sind die Vorgehensweisen an Schulen sehr kreativ. Mal selbstverständlich und kompetent, mal abwehrend und hinhaltend, mal irgendwo dazwischen. Höchste Zeit also, den auftauchenden Fragen nachzugehen und allen Beteiligten Orientierung an die Hand zu geben.

Worum geht es? Bei bestimmten Beeinträchtigungen erhalten Kinder und Jugendliche an Schulen einen Ausgleich, der ihnen das Lernen und den Nachweis des erworbenen Wissens erleichtern soll. Die Gewährung und verlässliche Umsetzung der Nachteilsausgleiche ist von Schulen von Amts wegen eigenständig und eigenverantwortlich zu leisten. Das bedeutet, dass alle Lehrer:innen aufmerksam darauf achten müssen, welche der Kinder, die sie unterrichten, möglicherweise in die zu unterstützenden Gruppe gehören. Die Maßnahmen werden dann mit den Klasssenleitungen abgestimmt, die auch - neben den Abteilungsleitungen - für die Koordination und Umsetzung verantwortlich sind. All dies geschieht zunächst unabhängig davon, ob es eine Anfrage oder einen Hinweis der Erziehungsberechtigten gibt.

 

 

 

Wer erhält einen Nachteilsausgleich? Die zugehörige Handreichung der Hamburger Schulbehörde benennt

  • Schüler/innen infolge einer Behinderung
  • Schüler/innen mit einer besonders starken Beeinträchtigung beim Lesen und Schreiben
  • Schüler/innen mit einer besonders starken Beeinträchtigung im Rechnen bis einschließlich Klasse 4
  • Schülerinnen bei vorliegender Schwangerschaft
  • Schüler/innen mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung (z.B. Depressionen, Essstörungen, ADHS u.a.)
  • Kinder mit diagnostiziertem sonderpädagogischen Förderbedarf bei zielgleicher Unterrichtung
  • Schüler/innen im Rahmen einer langdauernden oder chronischen Erkrankung
  • Schüler/innen mit nicht langfristigen Erkrankungen (z.B. Beeinträchtigung der Schreibhand) oder bei mehrwöchigem, infektbedingten Fehlen
  • umgeschulte Linkshänder/innen 

Darunter fallen auch Schüler/innen aus dem Autismus-Spektrum, zu dem die Asperger-Störung gehört, Asthmatiker/innen oder Kinder, die stottern. Auch bei sozial-emotionalem Förderbedarf besteht ein Anspruch auf Nachteilsausgleich. Die Kinder müssen nach Einschätzung der Schule und gegebenenfalls fachlich beratend hinzugezogenen Stellen in der Lage sein, die in den Bildungsplänen festgelegten Leistungsanforderungen zu erfüllen - die Bildungsziele, also die angestrebten Abschlüsse bleiben dieselben. 

Leider fallen einige Kinder und Jugendliche bislang noch nicht ins Auge, die eigentlich auch einen Ausgleich für Nachteile in ihrer Lebenssituation benötigen. Kinder von psychisch erkrankten Eltern gehören ebenso dazu wie Kinder und Jugendliche, die Angehörige pflegen, oder solche, die in hoher Armut leben. In Deutschland pflegen rund 479.000 Kinder und Jugendliche andere Menschen - es sei hier kurz auf das anerkennenswerte Projekt "Pausentaste" hingewiesen.

 

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Leider werden viele Unterstützungsbedarfe nicht erkannt, die Kinder haben dann das Nachsehen. Woran liegt das? Im stressigen Schulalltag übersehen Lehrkräfte schon mal diese Aufgabe. Oder die interne Kommunikation gelingt nicht - ich begleite gerade eine Schülerin, deren Nachteilsausgleich gewährt ist, aber die darüber informierende E-Mail der Abteilungsleiterin wurde von den Lehrkräften nicht wahrgenommen. Mehr durch Zufall kam das auf einer Projektfahrt in Gesprächen ans Tageslicht. Auch Vorurteile sind recht häufig; der Nachteilsausgleich wird dann als Versuch angesehen, sich gute Noten 'unberechtigt zu erschleichen'. Manchmal verhindern ungünstige Organisationsstrukturen an der Schule die Umsetzung, manchmal gibt es kaum eingeplante Zeit zum Abstimmen der Zusammenarbeit unter den Lehrkräften.

Lehrkräfte und Erziehungsberechtigte haben häufig wenig Wissen über den Nachteilsausgleich, übersehen daher diese Unterstützungsangebote aus Unkenntnis. Mancher Bedarf fällt auch nicht unbedingt ins Auge. Eltern brauchen daher die Informationen, wer berechtigt ist, um die Schule ansprechen zu können. Zwar liegen diese Informationen im Internet zum Abruf bereit, doch wer nicht weiß, dass es da Hilfen gibt, der sucht nicht danach. Hier sind die Schulen gefragt, stärker für das Thema zu sensibilisieren. Oft sind Familien, deren Kinder einen Ausgleich von Nachteilen benötigen, stärker belastet und haben nicht die Zeit für Recherchen. Diagnose- und Therapietermine müssen wahrgenommen werden, vieles wie Hausaufgaben etc. dauert länger und dazu kommen Sorgen, ob man seinem Kind auch wirklich ausreichend helfen kann.


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Hört man Eltern zu, die an Schulen mit dem Thema Nachteilsausgleich zu tun haben, dann sieht man: Viele hatten entweder nicht den Mut, Probleme anzusprechen, oder hatten es so oft vergeblich getan, dass sie resigniert haben. Andere wussten nicht, wie sie es tun können. Nimmt eine Schulleitung nun ihre Aufgabe nicht ernst und wird erst dann tätig, wenn Eltern konkrete Missstände bei einzelnen Lehrkräften ansprechen, dann schreckt das eher ab. Diesen Familien kommt man so nicht entgegen. 

Im Ergebnis erhalten Kinder die ihnen zustehende Unterstützung nicht - und das ist es, worum es geht: Wie können die Schulen die Eltern mit ihren Bedenken ernst nehmen und zugleich mit ihnen ins Gespräch kommen? Die Angst vor abstrafenden Lehrkräften sitzt tief bei Eltern und Schüler/innen, sie brauchen  eine andere Art der Begleitung: mehr Ermutigung, mehr Ernstnehmen und Beispiele, wie man gut ins Gespräch kommen kann. Wie wäre es etwa mit einer freundlichen Nachfrage der Abteilungsleiter/innen ein paar Wochen nach Gewährung eines Ausgleichs an die Eltern? Das lässt sich mit den heutigen digitalen Mitteln leicht einrichten und kann ein Türöffner für vertrauensvolle Rückmeldungen sein.

 

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Dies sind die notwendigen Schritte: Stellt die Schule fest, dass bei einer Schülerin/einem Schüler Einschränkungen vorliegen, für die eventuell ein Nachteilsausgleich in Frage kommt, oder weisen Sorgeberechtigte bzw. volljährige Schüler/innen auf Einschränkungen hin und begehren einen Nachteilsausgleich, wird die Schule “von Amts wegen” tätig.

  • Die Schule prüft, ob die Schülerin/der Schüler zum berechtigten Personenkreis zählt.
  • Ist dies der Fall, prüft die Schule ob die festgestellten Einschränkungen einen NA erforderlich machen. 
  • Ist dies der Fall, sind geeignete, “angemessene Erleichterungen” festzulegen und umzusetzen (einmalig oder dauerhaft, für ein Fach oder mehrere). 
  • Die in der Klasse unterrichtenden Lehrkräfte entscheiden über einzelne Maßnahmen im Einvernehmen mit den Sorgeberechtigten. 
  • Ein Beschluss der Klassenkonferenz ist nicht nicht erforderlich. Sollte kein Einvernehmen bestehen, trifft die Entscheidung über den Nachteilsausgleich die Schule. 
  • Der Nachteilsausgleich wird im Schülerbogen (und im eventuell vorhandenen Förderplan) dokumentiert (Art & Umfang). 
  • Ergänzend ist zu prüfen, ob ggf. weitere Formen der Unterstützung in Frage kommen (Individualisierung, Notenschutz o.ä.). 
  • Die Schule soll das aus pädagogischer Sicht Notwendige und Geeignete als Nachteilsausgleich umsetzen. 

Da beim Nachteilsausgleich Lehrkräfte und Eltern sehr eng und mit gutem gemeinsamen Verständnis zum Wohle der Kinder zusammenarbeiten müssen, sollte ein Weg gefunden werden, den alle als vorteilhaft ansehen. Vor allem: hört den Kindern zu! Diese spüren am besten, ob die angedachten Maßnahmen gut für sie sind - und das heißt, ob sie wirklich eine spürbare Entlastung sind, die gerne angenommen wird, da sie bereitwillig gegeben wird und die Kinder nicht bloßstellt oder noch mehr unter Druck setzt. 

 

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Lasst bitte auch die Verantwortung dort, wo sie hingehört, bei den Erwachsenen! Die Lehrerin muss daran denken, dass ein Schüler mit AD(H)S mehr Zeit für die Englischarbeit hat - die Ansage "Erinnere mich doch am Ende der Stunde daran!" gibt die Verantwortung an ein Kind, das diese nicht übernehmen kann. Gerade diesen Kindern fällt ja das Erinnern von Arbeitsaufträgen schwer! Erlebt habe ich auch, dass eine Schülerin mit einer Sozialphobie alleine eine Lehrerin ansprechen sollte, die den Ausgleich nicht umsetzte. Das kann das Mädchen nicht! Außerdem ist die Weigerung, einen Nachteilsausgleich umzusetzen, eine Verletzung der Dienstpflicht, sollte daher umgehend von den Erziehungsberechtigten in die Hände der zuständigen Abteilungsleitung gelegt werden. Als Dienstvorgesetzte sind diese zuständig. -

Manche Eltern haben den Wunsch, die Lehrkräfte ihrer Kinder über die zugrundeliegenden Ursachen zu informieren und so das Verständnis für die Lage der Kinder zu verbessern. Wer zum Beispiel weiß, was eine Autismus-Spektrums-Störung ausmacht, kann die Fördermaßnahmen besser auswählen und manche Verhaltensweise der Kinder besser einordnen. Gleiches gilt natürlich auch für AD(H)S, Depressionen oder anderes. 

 

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Eltern bringen oft viel Fachwissen und gutes Material mit - da offen zu sein und das in einem Bereich der Schulhomepage einzustellen, baut nach und nach eine Sammlung auf, die alle an der Schule nutzen können. Wenn man das systematisch macht, kommt man schnell sehr weit. Außerdem kann man regelhaft an den Elternabenden auf diese Sammlung hinweisen, um Eltern dafür zu sensibilisieren, ob ihr Kind auch einen Nachteilsausgleich benötigt. Dann wären auch die Erkennungslücken geschlossen und die Schule hätte die Eltern von Anfang an im Boot, um die Schüler/innen möglichst gut begleiten zu können.

Seriöse grundlegende Informationen zu den Ursachen für den Nachteilsausgleich gibt es mittlerweile ausreichend, diese können in verbindlichen Gesprächen zwischen Lehrkräften, Kind und Eltern als Gesprächsanlass über die notwendigen Unterstützungen dienen, zu mehr Verständnis beitragen und nach und nach eine angemessene Akzeptanz für die Notwendigkeit der Maßnahmen aufbauen. Sie helfen auch beim Verständnis von Fachdiagnosen. 

 

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Eine entscheidende Frage für Schulleitungen ist, wie man mit Lehrkräften umgeht, die die Umsetzung des Nachteilsausgleichs nur halbherzig betreiben? Da spielen die verschiedenen Gründe eine Rolle; mancher hat wenig Ahnung davon, möchte das nicht zugeben und schummelt sich oberflächlich durch. Der nächste hält es für übertrieben und denkt, dass sich die Kinder damit einen Bonus holen, der aber nicht gerechtfertigt ist. Die nächste ist eventuell durch private Ereignisse so belastet, dass sie nur noch das Minimum arbeitet, der Nachteilsausgleich fällt dann eben flach.

Entscheidend ist da, wie gut der Nachteilsausgleich strukturell an der Schule verankert ist. Gibt es regelmäßige Hinweise, sind wichtige Informationen bekannt und leicht abrufbar? Wissen alle, was von ihnen erwartet wird bzw. was sie tun können? Gibt es ausreichend automatisierte Erinnerungshilfen? Ist geregelt, dass andere Lehrkräfte die Aufgaben der besonders stark belasteten Kollegen/Kolleginnen übernehmen?

Die Inhalte der Nachteilsausgleiche kann man als Auswahllisten vorbereiten, die fortlaufend aus der jeweiligen Erfahrung heraus ergänzt werden. Für viele Bereiche existieren solche Hilfen bereits. Diese lassen sich zur Gesprächsvorbereitung an Schüler/innen und Eltern geben, die in Ruhe besprechen können, welche Maßnahmen zum Kind und zur Situation passen. Diese bessere Gesprächsvorbereitung bringt schneller Einigung, entlastet also alle, und hilft, nicht passende Maßnahmen und Missverständnisse zu vermeiden. Insgesamt wird eine klare Orientierung über die Schritte zu Berechtigung, Gewährung und Umsetzung gebraucht. 

 

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Ein Gespräch über die Maßnahmen mit den Lehrkräften, die sie umsetzen müssen, sollte für Schüler/innen und Eltern dazu gehören. Im Gespräch hilft eine Checkliste, die auch schon vorher bekannt sein sollte, anhand derer die Qualität der Maßnahmen geprüft wird. Da gilt es ja einiges zu beachten. Der Nachteilsausgleich soll:

  • Unterstützungs- und Hilfsangebote geben
  • den Zugangs zu Lerngegenständen und zum Nachweis von Lernleistung erleichtern
  • Erleichterungen in Unterricht und Prüfungen integrieren
  • Einschränkungen im Lernen und in der Leistungserbringung ohne Einschränkung von fachlichen Zielen ausgleichen
  • die Barrierefreiheit des Unterrichts (Behindertenrechtskonvention) gewährleisten
  • den Zugangs zu Fachinhalten und Aufgabenstellungen erleichtern
  • als Bestandteil der täglichen pädagogischen Arbeit integriert werden
  • individuelle, auf die jeweiligen besonderen Bedürfnisse zugeschnittene Unterstützung geben
  • die Erfüllung der schulischen Leistungsanforderungen und Leistungsnachweise in Unterricht und Prüfungen bei zielgleicher Unterrichtung ermöglichen
  • einen Ausgleich, um vorgegebene Ziele bzw. Abschlüsse und Übergänge erreichen zu können, geben 
  • einen fließenden Übergangs zwischen individueller Anpassung der Lern- und Arbeitsbedingungen und der Gewährung von Nachteilsausgleichen herstellen
 
Durch so ein Vorgehen hat man automatisch die kontinuierliche Beschäftigung mit den Inhalten und dem Sinn des Nachteilsausgleichs verankert. Wenn dann noch intern bekannt ist, welche Lehrkräfte mit welchen Maßnahmen Erfahrungen gesammelt haben, können Schulleiter durch Vernetzung die Teamarbeit sowie die Weitergabe von Wissen und Handlungskompetenz stärken.
 
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Regelmäßig sollte einmal im Halbjahr Feedback von Schüler/innen und Eltern zur Verlässlichkeit bzw. Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen eingeholt werden. Damit erhalten die Verantwortlichen für Qualitätsentwicklung an den Schulen ausreichend Rückmeldungen zur kontinuierlichen Bestätigung bzw. Überarbeitung ihres Konzeptes. 
Für Kinder und Jugendliche, die größere Hürden in der Schule vor sich haben als andere, ist das Kinderrecht, in Angelegenheiten, die sie betreffen, mitzureden und gehört zu werden, besonders wichtig. Sie empfinden sich häufig als anders und fühlen sich dadurch nicht zur Klassengemeinschaft zugehörig. Eine einfühlende, gemeinsame Gestaltung des Nachteilsausgleichs kann durch Ernstnehmen und Ermutigen des Kindes viel zu dessen Selbstwirksamkeit beitragen und seinen Selbstwert stärken. Ein Kind, das sich gut fühlt, lernt besser!

Meine Angebote in diesem Zusammenhang für Euch: Ein Handout zum Nachteilsausgleich in Hamburg findet sich hier, eine Handout mit Hinweisen auf Informationsmaterial für Eltern und Lehrkräfte hier.


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