Große und 'kleine' Gewalt
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Nachdenken über Alltagsgewalt
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Wir erleben gerade ein UND - barbarische, sinnlose Gewalt gegenüber den Menschen in der Ukraine UND weltweite Solidarität mit denen, die durch diese Gewalt aus ihrem Leben gerissen wurden, unfassbares Leid erfahren oder sich mit goßem Mut dagegen stemmen.
Wie so viele andere, trage auch ich ein Stück vererbten Krieg in meiner Seele. Meine Eltern waren acht bzw. zehn Jahre alt, als das schreckliche Morden und Zerstören des zweiten Weltkriegs endete. Beide Familien verloren fast alles, sie flohen aus dem heutigen Polen, damals Pommern, nach Niedersachsen. Die Bilder gleichen sich - meine Großmütter flohen jeweils mit drei kleinen Kindern, gemeinsam mit anderen Frauen. Die eine Großmutter wurde auf der Flucht zweimal vergewaltigt; erst von Russen, dann von Polen. Sie landete mit ihren Kindern in einem Barackenlager, das ironischerweise "Klein Moskau" genannt wurde. Für die Hiesigen waren sie, die Deutschen aus dem Osten, "die Russen". Verlust, Gewalt, Abwertung, Beschämung, ihr Mann erst im Krieg, dann in Kriegsgefangenschaft auf den Rheinwiesen, der andere Großvater in Frankreich gefallen - ich ertrage nur schwer, dass nun dasselbe wieder geschieht. Ich spüre die Verzweiflung, die Trauer, die Hilflosigkeit und die Wut der Menschen in der Ukraine, so wie ich als Kind die Traumata meiner Eltern spürte.
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UND gleichzeitig gibt es so viel Mut und Menschlichkeit - der Sanitäter, der inmitten von Ruinen die ausgebombte Rentnerin umarmt, die Ärzte, die in Kellern weiter behandeln, das Orchester, das in Kiew öffentlich spielt und kulturelle Werte verteidigt, während das Land weiter zerbombt wird. Hoffnung gibt, dass so schnell und unbürokratisch Hilfe organisiert wird, die - und das ist mir fast das Wichtigste - neben den Schlafplätzen und den warmen Mahlzeiten zunehmend auch die Seelen der Menschen sieht und beachtet. Die vielen authentischen Gesten, die warmherzige Zuwendung, das Mitfühlen und Dasein zählen unendlich viel in einer Welt, in der sich die sichere, vertraute Lebensgrundlage aufgelöst hat.
An der Schule meiner jüngeren Tochter wurden Sachspenden gesammelt, auf Instagram tauchte ein Bild der Schüler:innen in Form des Peacezeichens auf und für Gespräche über den Krieg wurde vom Schulleiter Zeit im Unterricht eingeräumt. Tätig werden, dasein, helfen und auffangen. Das sind wichtige Dinge und ich bin froh, dass sie stattfinden. Hinter jeder Handlung stehen Menschen, die das Leid berührt und die nun, je nach eigenem Vermögen, zur kollektiven Bewältigung beitragen. Insbesondere für die Kinder und Jugendlichen ist es gut zu erleben, dass auch sie etwas tun können. Die Gefühle von Ohnmacht, die das Geschehen auslöst, kann man so auffangen und abmildern.
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Dann fand ein Elternbrief des Schulleiters seinen Weg in mein Postfach. Er schrieb: "Unsere Haltung als Schulgemeinschaft dazu sollte klar sein: Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung ist nicht akzeptabel. Weder im Kleinen bei Auseinandersetzungen in der Schule noch im großen Maßstab bei zwischenstaatlichen Konflikten." Durchaus angemessen, oder? Warum tauchte dann eine Welle der Wut in mir auf? Genau: Weil Gewalt auch an dieser Schule im Alltag häufig auftaucht. Bei allen am Schulleben beteiligten Gruppen: bei Lehrern und Lehrerinnen, bei Eltern, bei den Sozialpädagoginnen, bei den Schülern und Schülerinnen und auch bei den Mitgliedern der Schulleitung. Weil man zwar Gewalt ablehnen sollte, es aber dann doch nicht tut. Schlimmer noch: Weil man oft, wenn sie von den davon Betroffenen benannt wird, Gewalt bagatellisiert, ihr ausweicht oder wegschaut.
Es ist ja nicht nur die Gewalt, um die man dann einen Bogen macht, es sind die Opfer der Gewalt, deren belastende Erfahrungen kleingeredet werden, die man ignoriert und mit ihrem Leid allein lässt. Die Gewalterfahrung der Opfer endet dadurch nicht, sie erleben im Versuch, fair behandelt zu werden, beim Einfordern von Gerechtigkeit sogar neue (subtile) Gewalt in Form von Ignoranz. Gewalt verschwindet nicht, wenn man sie leugnet - im Gegenteil, gerade das Leugnen und Nichtbeachten ebnet weiterer Gewalt den Weg. Diejenigen, die sie ausüben, lernen, dass sie damit durch kommen; die Opfer lernen, sich lieber klein zu machen - sie resignieren oft zu Lasten ihres Selbstwertes und ihrer Lebensfreude. Oder sie greifen selber zu Gewalt. Warum sollten ausgerechnet sie darauf verzichten, wenn es doch 'normal' ist, sich so 'durchzusetzen'?
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Die Diskrepanz zwischen Reden und Handeln nehmen fast alle in der Schulgemeinschaft wahr; wer zu oft erlebt hat, dass diese Aussage wenig wert ist, wird seltener für seine Rechte eintreten. Eine andere Mutter beschrieb es so: "Die Schule schreibt sich viel auf ihre Fahnen, aber wenn man danach greift, weil man es braucht, dann ist es nicht da." Geweckte Erwartungen, die nicht erfüllt werden, rufen Enttäuschung und Rückzug hervor.
Ich möchte das Gefühl der Wut angesichts dieser Lücke zwischen Aussage und gemachter Erfahrung zum Anlass nehmen, über die Zusammenhänge zwischen der 'kleinen Gewalt' im Alltag und der 'großen Gewalt' in Kriegen nachzudenken. Was ist Gewalt eigentlich? Woran erkennen wir sie? Was macht sie mit denen, die sie erleben? Was mit denen, die sie ausüben? Wie hängen die Gewalt im Kleinen und die im Großen zusammen?
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gewalt folgendermaßen: Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation (= Mangel) führt.
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Gewalt und Macht hängen also eng zusammen - ist Gewalt Machtmissbrauch? Der Einsatz von Macht zu anderen Zwecken als sie die jeweilige Gesellschaft legitimiert? Hat die Gesellschaft, haben die Bürger:innen eines Landes die Macht, zu entscheiden, wem sie Macht in die Hände geben und vor allem, wofür diese Macht verwendet werden darf? Haben sie auch ausreichend Macht, um Machtmissbrauch etwas entgegensetzen zu können?
Macht ist selbstverständlicher Anteil des Zusammenlebens von Menschen. Im Kern könnte man das Ausüben von Macht verstehen als das Beeinflussen anderer - aus dieser Perspektive heraus wird deutlich, dass das 'Wie' ein große Rolle spielt. Man kann Macht ausüben, indem man jemanden zwingt, bedrängt, bedroht, angreift, Krieg führt. Das, was die vielen Helfer:innen momentan zeigen, ist prosoziale Macht: Sie helfen, sie unterstützen, sie ermutigen, sie trösten. Auch so kann man Einfluss nehmen.
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Die Entwicklung einer Gesellschaft, ihre Haltungen und Werte, prägt den Umgang mit Macht. Wie lange dürfen Frauen schon wählen? Haben also Anteil an politischer Macht? Genügt das Wahlrecht? Beim Blick auf die Haltung der Männerbünde in manchen Parteien, die erfolgreich verhindern, dass Frauen in die Zentren der Macht, in die Parlamente, kommen - definitiv nicht. Gewalt hängt also auch eng mit Rechten, die man hat, und deren respektvoller Beachtung durch andere zusammen. Verbriefte Rechte müssen gelebt und angewendet werden, damit sie ihre Wirkung entfalten können. Nicht nur vom fernen Staat, sondern von jedem von uns im Alltag. Die Rechte anderer nicht zu beachten, ist nicht nur Unrecht - sich 'über andere zu ermächtigen', ihnen Rechte vorzuenthalten, ihre Rechte zu missachten, auch das ist Gewalt.
Unsere Gesellschaft legitimierte und legitimiert in vielen Bereichen Gewalt. Bis 1958 hatte ein Ehemann das alleinige Bestimmungsrecht (die Gewalt) über seine Ehefrau und die Kinder. Erst 1977 änderte sich die Situation rechtlich für Frauen, im Alltag erst nach und nach. Die andauernde Abtreibungsdebatte zeigt, wie sehr das Bestimmungsrecht über Frauen noch in den Köpfen herumspukt. Die gewaltfreie Erziehung von Kindern wurde erst im Jahr 2000 zu einem Recht erklärt. Die Haltung ist damit klar: "Wir schlagen keine Kinder." Dass es im Alltag anders aussieht zeigen viele Studien: Etwa zwei Drittel der über 14jährigen haben Gewalt in der Erziehung erlebt ("Ein Klaps auf den Po hat noch keinem geschadet..."), knapp die Hälfte der Erziehungsberechtigten hält den besagten 'Klaps' für 'vertretbar', 20% finden Ohrfeigen 'in Ordnung'. Diese Gewalt kann strafrechtlich verfolgt werden - wenn denn jemand den Mut hat, das zu tun. Wenn jemand hinsieht.
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Was ich damit sagen möchte: Etwas als Haltung in den Raum zu stellen, ist das eine, es wirklich im eigenen Handeln zu beachten, das andere. Nach wie vor erlebt jedes fünfte Kind Gewalt zuhause als 'normalen' Teil seines Alltags. Die Gewalt legitimiert sich selber - oder sollte man lieber sagen, die, die sie anwenden, legitimieren sie vor sich selbst? Gern durch Schuldzuweisungen oder Abwertungen in Richtung der Kinder...
Auch an Schulen ist Gewalterfahrung ein nicht unerheblicher Aspekt im Alltag der Kinder, und zwar nicht nur körperliche Gewalt, die tatsächlich noch etwa 4-5% der Lehrkräfte ausüben, sondern vor allem die ebenfalls strafrechtlich relevante psychische Gewalt. Etwa jede vierte (!) Interaktion von Lehrkräften mit den ihnen anvertrauten Heranwachsenden fällt in diesen Bereich. Im Erleben macht das keinen Unterschied, jede Form von Gewalt berührt die Schmerzgrenze der Kinder; Ausgrenzung und Beschämung ebenso wie Schläge.
Die Folgen von Gewaltanwendung auf den Einzelnen, aber auch auf ganze Gesellschaften, sind gut erforscht. Gewalt zerstört Vertrauen und sichere Bindungen, Gewalt aktiviert das Angstsystem und löst teils massiven Stress aus, die Gesundheit nimmt vielfältig Schaden, Lernen und Entwicklung werden eingeschränkt. Schon Gewaltakte an anderen zu sehen, hat denselben Effekt - wann immer auch und gerade Alltagsgewalt unbeantwortet bleibt, hinterlässt das negative Spuren in der Gesellschaft. Gewalt zu erleben, oft jahrelang, schafft Mangel - an emotionaler Zuwendung, an innerer Sicherheit, an Vertrauen in sich oder in andere.
Quelle: www.kinder-verstehen.de |
Im Kleinkindalter von Gewalt Betroffene zeigen später eine um das Dreifache erhöhte Aggressivität. Dazu trägt auch ein innerer Mechanismus bei, der eigentlich eine Schutzfunktion hat: Wenn Zugehörigkeit und Akzeptanz bedroht sind, wenn Ausgrenzung und Abwertung erlebt werden, springt der Aggressionsapparat an - das Gefühl von Wut weist auf diese Gefahr hin. Der Neurobiologe Joachim Bauer erklärt diese Zusammenhänge umfassend in seinem Buch 'Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt':
Konstruktiv oder destruktiv? - Die kommunikative Funktion der Aggression Die neurobiologische Bedeutung menschlicher Aggression liegt in ihrer kommunikativen Funktion. Aggression signalisiert, dass ein von Schmerz oder Ausgrenzung betroffenes Individuum nicht bereit und nicht in der Lage ist, eine ihm zugefügte soziale Zurückweisung zu akzeptieren. Um ihre kommunikative Funktion erfüllen zu können, muss sich Aggression allerdings in angemessener Weise äußern: Tritt sie nicht in einem erkennbaren Kontext auf, wird sie nicht am 'richtigen' Ort oder zur 'falschen' Zeit geäußert, oder kommt sie in einer nicht angemessenen Agressions-'Dosis' daher, kann sie das Problem, das sie eigentlich beseitigen sollte, verschlimmern. Das Ergebnis ist dann in der Regel ein Agressionskreislauf zwischen dem Betroffenen und seiner Umwelt. Schwere physische Gewalt tritt vor allem dort auf, wo die verbale Kommunikation zwischen dem späteren Täter und seiner Umgebung zum Erliegen gekommen ist. Physische Gewalt zerstört ihrerseits die kommunikative Funktion der Aggression. Erfolgreich kommunizierte Aggression ist konstruktiv. Aggression, die ihre kommunikative Funktion verloren hat, ist destruktiv.
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Für die zu beobachtende Alltagsgewalt an Schulen bedeutet dies, Aggression nicht zu verdammen oder zu unterdrücken, sondern sich bei Kindern und Erwachsenen die Auslöser anzusehen - um dann zu lernen und zu lehren, wie man Aggression konstruktiv kommuniziert UND aufgreift, bevor sie zu blinder Gewalt wird. Das 'UND' steht dafür, dass wir alle einen Anteil an der Gewalt haben: diejenigen, die sie ausüben, UND diejenigen, die einen Umgang damit finden müssen oder wollen. Ob jemand zulässt, dass Wut mitgeteilt werden darf und dabei hilft, dies konstruktiv zu tun, oder ob der Wütende, die Wütende wegen der gezeigten Gefühle ignoriert oder verurteilt wird, ohne Gehör zu finden, macht einen Unterschied. Im ersten Fall stärkt man die Beziehung und beachtet so das verletzte, die Wut verursachende Bedürfnis; im zweiten Fall verstärkt man die Ursachen der Aggression, gießt Öl ins Feuer.
Der oben zitierte Schulleiter weiß, was an seiner Schule geschieht. Lehrer:innen schreien im Unterricht die Kinder an (= psychische Gewalt), Kinder werden von Lehrkräften vor der Klasse beschämt (= psychische Gewalt), in Konfliktfällen werden einzelne Kinder zu Sündenböcken gemacht (= psychische Gewalt), es gibt heftige, sich lange hinziehende Mobbingsituationen (= psychische Gewalt), nicht nur in mancher Klasse, sondern auch im Elternrat, um nur einiges zu nennen. Als langjährige Elternvertreterin und Mitglied des Elternrates dieser Schule habe ich eine lange, lange Liste von 'Einzelfällen' im Kopf, die eben keine einzelnen Fälle sind - Gewalt in vielfältigen Ausprägungen ist für die, die den Mut haben, hinzuschauen, an dieser Schule ebenso wie an allen anderen Schulen deutlich wahrnehmbar.
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Was braucht der Schulleiter, um die Verzweiflung der tatsächlich an der Schule von Gewalt Betroffenen besser spüren zu können? An sich heran lassen zu können? Die Kommunikation darüber anders gestalten zu können? Anders mit den Situationen umgehen zu können? Was brauchen wir alle in der Schulgemeinschaft? Denn er ist ja nicht der einzige, der den Kopf einzieht, wenn eine Situation brenzlig wird. An was fehlt es? An Wissen? An Mut? An Zivilcourage? An Rückhalt - also an tragfähigen Beziehungen, das heißt vor allem: fehlt es an Vertrauen in der Schulgemeinschaft?
Mit jedem Wegsehen, mit jedem Nichteintreten, mit jeder Ungerechtigkeit werden die Grundlagen für mutiges Handeln kleiner, die Menschen vorsichtiger. Verschieben sich die Werte. Nicht zum Guten.
Man mag jetzt denken: das sind Kleinigkeiten angesichts des Krieges. Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun. Doch, hat es. Die ignorierte, vermeintlich so 'kleine' Gewalt im Alltag bereitet den Weg für die 'große' Gewalt. Kinder, die mit Gewalt aufwachsen - und das sind in Deutschland 20% - starten mit unsicheren oder vermeidenden Bindungsmustern in ihr Leben. Sie haben sich das nicht ausgesucht, das Leben gibt ihnen von Anbeginn an eine schwere Last mit. Sie können weniger vertrauen, vermuten mehr Gefahren, ihr Angstsystem ist im Daueralarm. Diese Kinder brauchen ein Mehr an Verständnis, ein Mehr an Zuwendung, um sich gut entwickeln zu können. Was sie nicht brauchen: Zurückweisung, wenn sie sich in der einzigen Sprache mitteilen, die sie lernen konnten: in der der Aggression.
Quelle: www.kinder-verstehen.de |
Einige Studien zeigen, dass viele Lehrkräfte Kinder mit auffälligem Verhalten ablehnen, also genau diejenigen, die wahrscheinlich zu denen gehören, die mit schlechten Startchancen ins Leben gehen. Statt Zuwendung erfahren sie in der Schule weitere Ausgrenzung, das verstärkt vorhandene Bindungstraumata und lässt die innere Aggression ansteigen. Wie diese Kindheitserfahrungen von Unsicherheit mit rechtspopulistischen Tendenzen zusammenhängen, hat der Kinderarzt und Wissenschaftler Herbert Renz-Polster in seinem Buch 'Erziehung prägt Gesinnung' herausgearbeitet:
Die allermeisten Anhänger rechtspopulistischer Parteien sind weder sozial abgehängt noch von ihrem Bildungsstand her benachteiligt. Vielmehr handelt es sich bei ihnen überraschend häufig um gut situierte Mittelstandsbürger, die in den immer gleichen äußeren Situationen auffällig werden. Diese Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Ängste um den Verlust von sozialer Anerkennung und Sicherheit auslösen können. Diese Ängste wurzeln tief in Kindheitserfahrungen. Tages- und zeitaktuelle Auslöser solcher Ängste sind vor allem gesellschaftliche Entwicklungen, welche die eigene Identität, bisherige Bedeutung und soziale Dominanz in Frage stellen. (...) Die rechtspopulistische Haltung kann als lebenslang nachwirkende Sozialisationskrise verstanden werden: Erwachsene mit rechtspopulistischen Haltungen haben häufig verunsichernde Kindheiten erlebt, in denen sie eigene, innere Stärke nur schwer aufbauen konnten. Permanente Überforderungserfahrungen begründen eine lebenslange Abhängigkeit von äußerer Stärke und Autorität. (...) Wer jedoch als Kind seine eigene Stimme und innere Sicherheit NICHT hat finden können, wird sein Heil in der „alten Ordnung“, in der Zugehörigkeit zu einer als überlegen fantasierten Gruppe und der Abwertung anderer suchen. Diese Suche wird nun zur neuen Selbstvergewisserung.
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Wenn wir also Demokratie und friedliches Zusammenleben stärken wollen, müssen wir überlegen, ob wir - im Privaten, in Kindergärten, in Kitas, an Schulen, an Universitäten, im Beruf - für die Kinder, für die Menschen Bedingungen schaffen, die dem entgegenwirken. Die den Aufbau innerer Sicherheit fördern, damit sie ihr 'Heil' nicht in der Gewalt gegenüber anderen suchen.
Auch unter uns Erwachsenen, unter den Erzieher:innen und Lehrkräften, sind viele mit unsicheren, vermeidenden Bindungsstilen - thematisieren wir das ausreichend im Blick auf unser Zusammenleben? Man kann nur das an kommende Generationen weiter geben, das man selber in Händen hält. Das gilt auch für die innere Sicherheit. Die lässt sich nicht hinter Tabus und Vermeidung bestärken. 'Wasch mich, aber mach mich nicht nass!' funktioniert nicht, wenn es um Selbstwachstum geht. Innere Entwicklung braucht die Resonanz eines verstehenden Gegenübers, braucht Ermutigung, Zuwendung und Trost. Braucht auch Beachtung der Wut, die nicht nur Kinder zeigen, wenn soziale Akzeptanz und Gerechtigkeit verweigert werden.
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Womit sich der Blick wieder auf die oben erwähnte und andere Schulen richtet. Was ist notwendig, um in Konflikten einen konstruktiven Umgang mit der sie begleitenden Gewalt zu finden? Vielleicht beginnt es mit der Akzeptanz von Aggression und Konflikten als zum Leben zugehörig. Wo Menschen aufeinandertreffen, werden Grenzen überschritten, Rechte verletzt, geschehen Ungerechtigkeiten. Zum konstruktiven Umgang damit, zu einer lebendigen Auseinandersetzung, gehört es, die eigenen Rechte zu kennen und für sie eintreten zu lernen. Es gehört auch dazu, dass die Mächtigeren, die Lehrkräfte und Schulleitungsmitglieder, dieses nicht nur zulassen, sondern aktiv unterstützen. Das gelingt manchmal, manchmal aber auch nicht. Unsicherheit, Selbstschutz, Zeitdruck oder Desinteresse verhindern ein angemessenes Aufgreifen von berechtigten Anliegen - all das habe ich oft an Schulen erlebt. Mir viele blaue Flecken geholt bei den Versuchen, für Gerechtigkeit und Fairness einzutreten. UND mache es dennoch weiterhin, da ich weiß, warum ich es tue. UND zugleich kann ich verstehen, warum manches (noch) nicht gelingt. Auch im Schulalltag ist leider immer weniger Raum für menschliche Zuwendung, für Beziehungsaufbau und Vertrauensbildung.
Verstehen heißt nicht, es gut finden. Die Folgen für die Schulkultur sind negativ: Schüler:innen und Eltern resignieren schneller, ziehen sich bei
Konflikten lieber zurück und stellen sich, wenn ein anderer für sich
eintritt, rasch auf die Seite der Lehrkräfte - denn nur im guten Kontakt
mit der Macht hat man eine Chance, beachtet zu werden. Anpassung wird mit Zuwendung belohnt, wer 'Probleme' macht, weil er für etwas kritisch eintritt, ignoriert. Das ist sehr wirksam - jemanden zu ignorieren entzieht ihm seine Daseinsberechtigung, entwertet und stigmatisiert ihn vollständig innerhalb der Gemeinschaft. Wer Ignoranz als Machtmittel einsetzt, wendet Gewalt an und ruft auf verantwortungslose Weise Aggressionen hervor.
All das bereitet den Weg dafür, 'starken Anführern' unkritisch zu folgen und die zu verachten, die aufbegehren. Ich wünsche mir da nach wie vor Veränderungen. Vom Schulleiter: Den Mut zur rechtzeitigen, authentischen Kommunikation, den Mut, sich wirklich mit den Menschen auseinanderzusetzen, den Mut, die Dinge an sich heranzulassen statt sie schönzureden, den Mut, an der Situation zu wachsen (nicht einfach, ich weiß), den Mut, die Rechte von Kindern und Eltern genauso zu beachten wie die tatsächlichen oder die vermeintlichen Rechte der Lehrkräfte.
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Kriege und Traumata machen Menschen oft sprachlos. Wer mit kriegstraumatiserten Menschen aufwächst, leidet unter dieser Sprachlosigkeit, da die bedrohlichen Gefühle, die damit gebändigt werden sollen, sich davon nicht beeindrucken lassen und ihren Weg in die Kinderseelen finden. Die Sprachlosigkeit der Traumatisierten ist notwendiger Selbstschutz UND ruft weitere Traumatisierungen hervor. Dasselbe geschieht mit fortlaufend erlebter, zum Tabu erklärter Alltagsgewalt. Auch das belastet Kinderseelen und kann Traumata auslösen.
Reden, sich öffnen, Gefühle wahrnehmen, ihnen Ausdruck verleihen, zulassen, dass andere ihren Gefühlen Ausdruck verleihen, einander im jeweiligen Erleben würdigen - wenn sich etwas aus Kriegen lernen lässt, dann, wie (über)lebensnotwendig es ist, dass Menschen so miteinander umgehen. Nicht nur angesichts von großer Not sollten wir uns darauf besinnen, sondern auch im Alltag. Menschlichkeit ist die Grundlage unserer Existenz - jede kleine Geste zählt.
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